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Eckdaten zu LandArbeit
Hans-Jürgen Driemel
LandArbeit gestaltet Heimat
– mit Kulturentwicklung zur Zivilgesellschaft –

Seit 1995 gibt es im Landkreis Hildesheim Kulturentwicklungsplanung (im Folgenden auch verschiedentlich kurz mit KEP bezeichnet). Vor dem Hintergrund der damals schon absehbaren Rückläufigkeit der für die Zwecke der Kulturförderung zur Verfügung stehenden Finanzmittel ging es darum, im Kulturbereich Strukturen zu schaffen bzw. zu verändern mit dem Ziel, den Wirkungsgrad vorhandener bzw. tendenziell sich verringernder finanzieller (und personeller) Ressourcen zu verbessern. Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass eine kulturelle Szenerie, deren zunehmende gesellschaftspolitische Bedeutung erkannt worden war, in einem entscheidenden Studium ihrer Entfaltung ausgebremst und das hier eingebrachte hohe Maß an ehrenamtlichem (bürgerschaftlichen) Engagement schlichtweg abgefackelt und in der Folge nicht mehr für die Weiterentwicklung einer künftigen auszubildenden Zivilgesellschaft verfügbar sein würde. Der Grad der Verfügbarkeit von bürgerschaftlichem Engagement für den Kulturbereich, aber auch andere Bereiche der Ausgestaltung von Lebenswelt, würde, so die Annahme, sehr weitgehend davon abhängen, inwieweit es gelingen könnte, die Identifikation von Menschen mit ihrer Lebenswelt zu fördern (dies auch als eine wesentliche Voraussetzung zur Herausbildung dessen, was unter regionaler Identität zu verstehen ist).

Parallel zur Kulturentwicklungsplanung wurde von der NORD/LB für den Landkreis ein "Regionales Entwicklungskonzept für die Wirtschaftsregion Hildesheim" erstellt. Dort ging es zwar in erster Linie um wirt­schaftliche Potentiale und Standortaspekte, doch sind die Übereinstimmungen mit der Kulturentwicklungsplanung, sowohl bei Teilzielen als auch Vorgehensweisen zur Stärkung der Wirtschaftskraft der Region, signifikant. Auch in diesem Zusammenhang spielt der Aspekt der Identifikation der Menschen mit "ihrer" Region eine nicht unwesentliche Rolle.

Bei der Theoriebildung zur Kulturentwicklungsplanung war die Heimatpflege von Anfang an mit berücksichtigt worden, verstanden als integraler Bestandteil der kulturellen Szenerie, gleichberechtigt neben dem traditionellen etablierten Kulturbetrieb und der Soziokultur. Insofern war auch eine weitere Ansage der Kulturentwicklungsplanung, nämlich Vernetzungsprozesse initiieren und fördern zu wollen, ernst gemeint.

Dieses hohe Maß an Offenheit bei der Herangehensweise führte zu Erkenntnissen, die sich bei einer Einengung eines "so" oder "anders" akzentuierten Kulturbegriffs möglicherweise nicht eingestellt hätten. An dieser Stelle sollte auch erwähnt werden, dass der Prozess der Kultur-entwicklungsplanung durch die Zusammenarbeit zwischen Landkreis und dem Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, welchem im Jahre 1997 auch die Federführung für das Projekt KEP vertraglich geregelt übertragen worden war, erheblich an Fahrt und Schubkraft gewann, und beim unter dem Strich zu verbuchenden Erkenntnisgewinn geradezu einen Quantensprung zu Folge hatte. Auf einige der gewonnenen Einsichten soll im Folgenden kurz eingegangen werden:

Es gibt offensichtlich ein Bevölkerungssegment (nicht nur im ländlichen Raum) mit hohem und steigendem Anspruch an eine Lebensqualität, die nicht mehr vornehmlich im Materiellen gesucht wird, sondern eher in den Möglichkeiten der persönlichen Weiterentwicklung, verstanden als Entwicklung von Kompetenzen der Aneignung von "Welt" (Erweiterung des "Horizontes"). Bei diesem Bevölkerungssegment, dem sogenannten liberal-technokratischen Milieu zugehörig (gute Bildung, finanziell abgesichert, arbeiten, um zu leben), handelt es sich um Bürgerinnen und Bürger, welche derzeit und auf absehbare Zeit die öffentliche Debatte maßgeblich mitgestalten, ohne indes entsprechend proportional an der politischen Herrschaft beteiligt zu sein. Bei diesem Personenkreis gibt es gleichwohl ein großes und tendenziell weiter zunehmendes Interesse an einer Mitwirkung bei der Ausgestaltung der eigenen Lebenswelt.

Hier haben wir es mit den Leuten zu tun, auf deren Gestaltungsinteressen letztendlich das derzeitige zu beobachtende Aufblühen zahlreicher, wiewohl unterschiedlicher, kultureller Initiativen im ländlichen Raum zurückzuführen ist. Sowohl bei den Initiator/innen und Akteur/innen als auch beim Publikum sind sie in großer Zahl vertreten.

Diese neuen kulturellen Initiativen füllen vor Ort zunehmend ein Vakuum aus, welches die traditionelle Heimatpflege aus vielerlei Gründen hinterlässt, und übernehmen auch deren Funktion, die Identifikation der Menschen mit ihrer Lebenswelt zu fördern. Im Zusammenspiel von vorfindbarem kulturellen Erbe und aktuellen kulturellen Ausdrucks-formen entstehen dabei neue kulturelle Humusschichten, welche die Bindemittel enthalten, die dazu beitragen, dass sich Bürgerinnen und Bürger in ihrem Gemeinwesen  lokal geerdet, beheimatet fühlen.

Noch nicht hinreichend begriffen zu sein scheint, dass dieses Engagement allerdings nicht im Lokalen verhaftet bleibt, sondern sich auf Räume bezieht. So wie touristische Reisende, wenn es sich beim Besuchsziel nicht gerade um eine größere Stadt handelt, einen entsprechend ihrer Mobilität ausgedehnteren Raum im Blick haben, so findet dieser "touristische Blick" auch Anwendung auf die "heimatlichen" Räume. Von Interesse ist dabei alles, was innerhalb eines Tages- oder Abendausflugs noch gut erreichbar ist; und diese Nahbereiche, in etwa von der Größe durchschnittlicher Landkreisterritorien werden in diesem Sinne als verfügbare "Heimat" erlebt.

Eine solche Qualität von Erdung kann vermutet werden als wichtige Voraussetzung für die Ausbildung von Kompetenzen des Umgangs mit einer globalisierten Welt. Wer sich, so verstanden, als beheimatet erheben kann, wird sich angstfreier dem Fremden gegenüber öffnen können (eine Ursache von Neo-Nazismus und Fremdenfeindlichkeit ist u. E. darin zu sehen, dass zu wenig dafür getan wird, bestimmte Bevölkerungsgruppen zu "beheimaten", ihnen Möglichkeiten der Erdung im bzw. der Identifikation mit dem Gemeinwesen zu eröffnen. Das beginnt mit fehlenden Jugendräumen, und hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass der Staat im Alltag nicht mehr als gemeinschaftsstiftende Idee wahrnehmbar ist, sondern im Gegenteil, selbst mit dazu beiträgt, Prozesse der Entsolidarisierung und damit der Zerstörung von – geistiger – Beheimatung voranzutreiben).

Als ein zentrales Ziel der Kulturentwicklungsplanung für den Landkreis Hildesheim kristallisiert sich somit immer deutlicher heraus die Freisetzung bürgerschaftlichen Engagements und damit die Förderung der Herausbildung einer entwickelten Zivilgesellschaft; denn das hier in Rede stehende Engagement bleibt in den seltensten Fällen auf den Kulturbereich beschränkt und ist die Voraussetzung für Vorgänge, welche sich unter dem Etikett "Repolitisierung des ländlichen Raumes" zusammenfassen ließen und Demokratisierungs­prozesse "von unten" meinen, deren politische Sprengkraft auf der einen Seite noch kaum erkannt worden ist, welche auf der anderen Seite aber den etablierten Funktions­eliten seit geraumer Zeit durchaus Angst zu machen scheinen.

Wenn in Sonntagsreden bürgerschaftliches Engagement gelobt wird, bezieht sich dieses Lob in auffälliger Weise in der Regel auf unentgeltliches im weitesten Sinne caritatives Tun, bestenfalls auf das Erbringen geldwerter Arbeitsleistungen, aber eigentlich nie auf Aktivitäten verändernder Gestaltung. Bei den Bürgerinnen und Bürgern, mit denen im Sinne von Bürger/innengesellschaft "Staat zu machen" wäre, ist eine ausgebildete politische Sensibilität erkennbar, gepaart mit eher geringen Erwartungen an traditionelle etablierte (partei-)politische Gestaltungs- bzw. Entscheidungsfindungsstrukturen. Die Förderung kultureller Teilhabekompetenzen bedeutet also nichts weniger als empowerment/Emanzipation, und dass dies offensichtlich nicht im Interesse eines Staatswesens ist, welches sich parteiübergreifend zu Verschlankung bekennt, ist nur scheinbar ein Widerspruch; denn hier geht es letztlich um Abgabe von  (Gestaltungs-) Macht.

Wo indes Menschen erleben dürfen, dass ihr Engagement im Wortsinne auf fruchtbaren Boden fällt, dann entsteht über eine neue Qualität von Identifikation mit der Lebenswelt hinaus auch eine neue Qualität der Identifikation mit dem Gemeinwesen, der Gesellschaftsordnung. Die Förderung von Kompetenzen der Teilhabe an Kultur in allen denkbaren Ausprägungen, sei es zeitgenössische Kunst im öffentlichen Raum, die Frage der Erhaltung historischer Denkmale oder eine Lesung von Frühlingslyrik in einem sonst nicht öffentlich zugänglichem privaten Gartenambiente, kann nicht getrennt gedacht  werden von der Förderung der Kompetenz, sich in die gesellschaftliche Wertedebatte einzumischen. Wann immer Menschen sich auf eine Interaktion (und nicht lediglich Konsumtion – hier ist nicht von "events" und "highlights" die Rede) mit Kultur einlassen und darüber kommunizieren, findet eine Verständigung über Werte statt, die für die jeweils geltende Gesellschaftsordnung konstitutiv sind, eine Fortschreibung des gesellschaftlichen Wertekonsenses. So entsteht neben der räumlichen, "geistige" Heimat.

Und dies alles hat auch eine ökonomische Dimension, die nicht geringgeschätzt werden sollte: (die Generierung von) Heimat im dargelegten Sinn zu fördern, ist auch vernünftige Standortpolitik. Beheimatete Menschen sind die wichtigsten Träger von Impulsen für erfolgreiches lokales/regionales Marketing; denn nichts übertrifft die (potentielle) Werbe-Wirkung von Menschen, die glaubhaft vermitteln können: "bei uns lohnt es sich zu leben!"

Interaktionsprozesse mit Kultur sind die wesentlich notwendige Voraussetzung zur Freisetzung von Kreativität (der einzigen innerhalb eines Kulturraumes in etwa gleich verteilten Ressource). Und von der Verfügbarkeit von Kreativität, verstanden als (auch: gesellschaftliche) Problem-lösungskompetenz hängt Innovationsfähigkeit ab, nicht nur der Wirtschaft, sondern eines Gemeinwesens überhaupt. Kurzum: es gibt offenbar einen signifikanten Zusammenhang zwischen Quantität und Qualität der Interaktion/Auseinandersetzung mit Kultur (wobei dem Weiter-/Bildungsbereich eine wichtige Relaisfunktion zukommt), und der Entwicklung wirtschaftlicher Potentiale. Dort, wo man mit dem Slogan "Wir können alles, außer Hochdeutsch!" wirbt, ist dies begriffen worden. Kultur in diesem Zusammenhang auf ihre konsumtiven Aspekte zu reduzieren, und sie entsprechend lediglich als sog. weichen Standortfaktor ins Kalkül zu ziehen, würde zu kurz greifen. Wo Kultur lediglich unter Verwertungsgesichtspunkten gesehen wird, ist sie auch in ihrer Eigenschaft, Mehrwert erzeugen zu können, gefährdet. Insofern sollten für den Umgang mit der Ressource Kultur(-elles Erbe) ähnliche Prinzipien wie für den Artenschutz gelten müssen.

Fazit: über die Förderung von Kompetenzen der Teilhabe am kulturellen Leben sowie am kulturellen Diskurs bzw. der Interaktion mit Kultur in all ihren Manifestationen wird "Heimat" generiert sowohl im physikalischen Sinn von Bindung an einen konkreten Raum als auch im Sinne geistiger Beheimatung in einem auf Wertekonsens gegründeten Gemeinwesen. Die Förderung kultureller Kompetenzen führt zur Freisetzung (bislang ungenutzter) Kreativpotentiale, unabdingbar für die Herausbildung von Innovationsfähigkeit (verstanden als Problemlösungskompetenz in allen Lebensbereichen) als Grundlage wirtschaftlichen Erfolges.

Heimat ist somit alles andere als ein überholtes sentimentales Prinzip. Heimat ist eine essentielle Grundlage für alles, was sowohl für den Einzelnen als auch die Gesellschaft als Ganzes zu einem "guten Leben" gehört. Allerdings sollte auch die Kehrseite der Medaille wenigstens abschließend Erwähnung finden: eine dominierende und sich als staatstragend gerierende Wirtschaftsphilosophie als Grundlage einer Lebensrealität, die so ist, dass Heimat kontinuierlich zerstört und Menschen entsprechend heimatlos werden, zerstört gerade die Potentiale, für deren Entwicklung sie Sorge zu tragen behauptet, und macht den seit Jahren geforderten "Ruck", welcher nur von einer ihrer Lebenswelt vergewisserten Bevölkerung ausgehend Wirkung entfalten kann, zunehmend unwahrscheinlich.

Projekte wie LandArbeit indes machen Hoffnung. Vielleicht werden sie einmal begriffen werden als signifikante LandMarken auf dem Weg in eine Menschenwürdige Zukunft, die gegründet ist auf zivilgesellschaftliches Engagement auf allen Ebenen gesellschaftlichen Handelns.

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Literatur:

Derenbach, Dr. Rolf, Beitrag der Kulturarbeit zur Stärkung des Kreisbewusstsein in Der Landkreis 4/1999 (S. 259-261)

Rifkin, Jeremy, ACCESS Das Verschwinden des Eigentums - Warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden, Frankfurt 2000 (insbes. S. 343 ff).